
Neue Gesetzeslage: ADHS-Patient:innen schärferen Kontrollmöglichkeiten der Polizei ausgesetzt
Eine neue gesetzliche Regelung aus dem Jahr 2025 beinhaltet für ADHS-Patienten zusätzliche Risiken, wenn diese sich im öffentlichen Raum aufhalten oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. Der am 31. Oktober 2024 neu ergänzte § 42c WaffG erlaubt eine verdachtsunabhängige und weitgehend unbeschränkte Durchsuchung aller Personen bei öffentlichen Veranstaltungen, auf Reisen mit dem öffentlichen Personenverkehr. Ferner ermöglicht der bestehende § 42 Abs. 5 eine anlasslose Durchsuchung in Zonen deutscher Großstädte. Die Beliebigkeit, welche Polizeibeamt:innen dabei in Bezug auf die anlasslose Durchsuchung von Bürger:innen eingeräumt wird, wird von Experten wie dem Bremer Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Christian Laustetter als hochproblematisch eingestuft. Die neue Regelung stelle „einen Grundrechtseingriff dar, der große Zweifel an der Verhältnismäßigkeit aufwerfe.“
ADHS-Betroffene und Neurodiverse: Vor neuem Gesetz weitgehend ungeschützt
Darius Krutzek, Psychologe und Gründer der ADHSpedia Enzyklopädie, kritisiert die zweifelhafte Regelung ebenfalls. In der sich daraus ergebenden Ermittlungspraxis befürchtet er eine zusätzliche Stigmatisierung ADHS-betroffener Patient:innen. „§ 42c WaffG enthält keine normativen Vorgaben darüber, anhand welcher konkreten Verhaltens- oder Erscheinungsmerkmale Personen im Rahmen verdachtsunabhängiger Kontrollen als kontrollwürdig eingestuft werden sollen. Der Begriff ‚verdachtsunabhängig‘ impliziert dabei zunächst eine zufällige Auswahl kontrollierter Personen. In der praktischen Umsetzung wird eine solche Zufallsauswahl jedoch regelmäßig nicht realisiert. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Auswahlkriterien informell und intransparent bleiben und dabei auch unspezifische oder subjektiv interpretierte Merkmale herangezogen werden. Hierzu zählen erfahrungsgemäß auch neurodivergente Verhaltensweisen, wie sie etwa bei Personen mit ADHS beobachtet werden können. Und gerade diese Personengruppe ist bedingt durch ihre Symptomatik besonders geneigt, in Stresssituationen ein Verhalten zu zeigen, das von Polizist:innen als auffällig interpretiert wird“, so Krutzek. Während etwa migrantisch erscheinende Personen zumindest auf dem Papier durch Art. 3 Abs. 3 der Verfassung vor Racial Profiling geschützt sind, verfügen ADHS-Betroffene und andere neurodivergente Personen über einen solchen Schutz selbst theoretisch nicht.
Weshalb Polizeibeamt:innen ADHS-Patient:innen häufiger als verdächtig empfinden
Psychosozialer Stress kann sich laut Krutzek bei vulnerablen Personen, zu denen auch ADHS-Betroffene zählen, schon aufgrund vager Anzeichen ergeben, welche bei Betroffenen stigmabehaftete Assoziationen wecken – zum Beispiel allein die Befürchtung, kritisch beäugt, kontrolliert oder beschuldigt zu werden. „Hier reicht gegebenenfalls schon die entfernte Anwesenheit eines Polizeibeamten aus, um vermeintlich verdächtiges Verhalten beim Patienten zu triggern. Kommt es dann tatsächlich zur Ankündigung einer Durchsuchung von Körper, Tasche und Gepäck, so wird sich ein vermeintlich auffälliges Verhalten durch die sich dann verstärkt zu Tage tretende ADHS-Symptomatik noch weiter aggravieren – was in den Augen vieler Polizist:innen wiederum die Annahme bestätigen wird, dass die Person verdächtig sei.“
Patient:innen „können sich eigentlich kaum richtig verhalten“
Als zusätzlich problematisch stellt sich dar, dass sich ADHS-Betroffene in solchen Situationen häufig auffällig unauffällig verhalten – etwa durch übertriebene Kontrolle ihres Verhaltens, steifes Auftreten oder eine auffallend vermeidende Körpersprache. Gerade dieses Bemühen, nicht aufzufallen, kann jedoch wiederum selbst als verdächtig wahrgenommen werden. So entsteht ein Teufelskreis, in dem jede Form von Reaktion – ob sichtbar nervös oder überkontrolliert – als Bestätigung eines Anfangsverdachts interpretiert wird. „Ein prä-stigmatisierter ADHS-Patient kann sich in so einer Situation also eigentlich kaum richtig verhalten“, so Krutzek weiter. Das Verhalten könne bei den Beamt:innen dann Interesse wecken, zu ermitteln, was der vermeintlich Verdächtige wohl zu verbergen habe. Und dabei werde eben auch verstärkt nach Betäubungsmitteln Ausschau gehalten.
Beschlagnahmung legaler Medikamente prinzipiell jederzeit möglich
Die meisten ADHS-Medikamente – insbesondere solche mit den Wirkstoffen Methylphenidat (etwa Medikinet) oder Lisdexamfetamin (etwa Elvanse) – unterliegen dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) und sind nur mit entsprechender ärztlicher Verschreibung legal im Besitz. Wird eine solche Substanz im Rahmen einer Kontrolle aufgefunden, kann es trotz Vorliegen einer Verschreibung zu strafrechtlichen Ermittlungen samt Beschlagnahmung der sich legal im Besitz befindlichen und dringend benötigten Medikamente kommen.
Zusätzlich drohen rechtliche Verteidigungskosten und langwierige sowie unangenehme Auseinandersetzungen mit Behörden. „Auch das Vertrauensverhältnis mit den behandelnden Ärzt:innen kann in der Folge leiden, etwa im Rahmen rechtswidriger Versuche, diese zu befragen – was wider Erwartens immer wieder vorkommt“. Unter unseren Patienten befinden sich zudem immer häufiger auch Fälle, in denen aus einem Mitführen einer subjektiv als „größere Menge“ angesehenen Methylphenidats von den Ermittlungsbehörden plötzlich ein angebliches Handeln mit Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG konstruiert wird. Die Staatsanwaltschaften stellen diese Ermittlungsverfahren in aller Regel nach einigen Monaten bis wenigen Jahren ein. Das Arsenal an Umständen und Problemen, welches den Patient:innen in der Folgezeit entstanden ist, wird von den Behörden grundsätzlich ignoriert und das Konzept einer Entschuldigung existiert auf Behördenseite grundsätzlich nicht. Vielmehr bleiben die Betroffenen so gut wie immer auf den psychischen, sozialen und finanziellen Folgen der Ermittlungen sitzen, auch wenn sie zu keinem Zeitpunkt etwas falsch gemacht haben.“
Polizei darf mit Betäubungsmittelausweis nicht beschlagnahmen
„Wenn bei einer Personen- und Gepäckdurchsuchung ADHS-Medikamente gefunden werden und der Patient eine rechtssichere Bescheinigung wie den ADHS-Ausweis vorlegt, dann müssen die Medikamente beim Patienten verbleiben und dürfen nicht beschlagnahmt werden“, so der Rosenheimer Betäubungsmittelrechtsexperte Dr. Marc Herzog. Insbesondere die mitgeführte Menge kann dann auch kein Verdachtsmoment mehr begründen. Da die in § 29 BtMG geforderte schriftliche Erlaubnis mit dem Betäubungsmittelausweis direkt referenziert wird und sämtliche vom Bundesverwaltungsgericht Koblenz (2022) geforderten Dokumentationskriterien erfüllt, fungiert dieser als rechtssicherer Beweis dafür, dass die mitgeführten Medikamente auf einer ärztlichen Beschreibung basieren. „Dabei lösen wir auch das Problem, dass Betäubungsmittelrezepte aufgrund der Dokumentationspflichten von Arztpraxen und Apotheken nach § 13 BtMVV nicht beim Patienten verbleiben dürfen und Kopien von Beamt:innen zu oft nicht anerkannt werden“, ergänzt Darius Krutzek.
Keine übermäßig großen Mengen mitführen
„Dabei darf die mitgeführte Menge an Substanz allerdings nicht in unglaubwürdigem Umfang von der hochzurechnenden Quartalsmenge abweichen“, so Krutzek weiter. „Wenn ärztlich beispielsweise eine Einnahme von 20 mg Medikinet adult zweimal täglich vermerkt worden ist, entspricht dies einer verordneten Quartalsmenge von 3600 mg. Wenn der Patient dann beispielsweise 7000 mg mit sich führt, entspricht das fast fünf Kartons Medikinet adult. Das fällt schon allein visuell auf und wenn der oder die Patient:in diese Überschreitung nicht spontan anderweitig rechtfertigen kann, muss mit Beschlagnahmung zu nach § 94 Abs. 1 StPO gerechnet werden, da die Medikamente hier als Beweismittel für eine Straftat angesehen werden dürften. Daher empfiehlt es sich in jedem Falle, immer nur so viele Medikamente mit sich zu führen, wie notwendig. Das darf natürlich aber auch einen gewissen Reservevorrat für ein paar Wochen enthalten, das ist in aller Regel unproblematisch.“